19.12.08

Heiliger Dienst am Göttlichen in jedem Menschen

Bei der Eröffnung der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart, im September 1919, hielt Rudolf Steiner eine Festansprache, in der er einige Grundmaximen der Waldorfpädagogik formulierte.

Jeder Pädagogik ist eine dreifach heilige Verpflichtung auferlegt: das Wissen, das künstlerische Können und das religiöse Empfinden von einer Generation zur nächsten zu übertragen.

Alle Wissenschaft wird erst wirklich fruchtbar, wenn sie den Menschen dient, wenn sie dazu beiträgt, das soziale Leben zu gestalten. Die wissenschaftliche Erkenntnis in die heranwachsende Generation überzuführen, bedeutet, sie in den Strom des werdenden Lebens der Gesellschaft einzusenken.

Die Kunst erlebt ihre höchste Vollendung, wenn sie nicht an totem Material, sondern am lebendigen Menschen wirksam wird. Der Mensch bliebe ohne die Künste und ihre Ausdrucksformen unvollendet. Die Kunst ist – ganz im Sinne Schillers – ein essentielles Bildungsmittel für den Menschen.

Eine höchste, heilige, religiöse Verpflichtung jedoch ist es, »das Göttlich-Geistige, das in jedem Menschen, der geboren wird, neu erscheint und sich offenbart, in der Erziehung zu pflegen.« Dieser Erziehungsdienst ist »religiöser Kult im höchsten Sinne des Wortes«. Erziehung und Bildung sind ein »Altardienst«, der am »Göttlich-Geistigen des heranwachsenden Menschen« vollbracht wird.

Allerdings, fährt Steiner fort, muss die Wissenschaft, wenn sie zu einem Mittel der Menschenbildung werden soll, vermenschlicht werden. Ein Reduktionismus, der im Menschen bloß einen physikalischen Apparat oder ein bloß biologisches Wesen sieht, ist ungeeignet, Menschen zu bilden, da er das Wesentliche am Menschen, seine Seele und seinen Geist, ignoriert. Wissenschaft als Erziehungsgrundlage muss ganzheitlich sein. Sie darf sich nicht nur auf Teile des Menschen beziehen. Erziehungskunst bedarf einer Menschenkunde, die das Wissen vom Unlebendigen in ein Wissen vom Lebendigen überführt. Das Geheimnis »unserer gegenwärtigen absterbenden Kultur« – so Steiner 1919 – sei, dass die abstrakte Erkenntnis den Menschen zwar zum Wissen führe, zugleich aber auch sein Gemüt und seinen Willen schwäche. »Von des Gedankens Blässe angekränkelt« vermag sich der Mensch mit einem solchen Wissen nicht harmonisch in das soziale Ganze einzufügen. Die Wissenschaft muss imstande sein, im Menschen Liebe für dieses soziale Ganze zu entzünden, »werktätiges Wollen«, durch das er sich mit seinen Fähigkeiten in die Gesellschaft einfügt.

Keine Dogmen, keine Prinzipien, nicht den Inhalt einer Weltanschauung will die Waldorfpädagogik den Kindern beibringen, sondern aus einer ganzheitlichen Anschauung des Menschen Erziehungskunst sein. In der Pädagogik muss die Wissenschaft zur Kunst werden: Erziehungshandeln kann nur kreativ sein. Nicht die Kompositionslehre macht den Komponisten zum Künstler, sondern ihre lebendige, kreative Anwendung. Aber die pädagogische Komposition gelingt nur, wenn die Kinder selbst in die Gestaltung des Kunstwerks einbezogen werden. Aus den Kindern strömt dem Lehrer der Inhalt seiner Kunst entgegen. Gute Schule ist ein soziales Kunstwerk.

Und gute Erziehung ist ein »Altardienst«, Dienst am Göttlichen, das sich in jedem Menschen offenbart. In jedem Menschen offenbart sich dieses Göttliche. Sofern wir nicht Atheisten sind, bringen wir dem Göttlichen das Gefühl der Verehrung entgegen. Ehrfurcht vor dem Kind ist die Grundstimmung, in die alle Pädagogik getaucht sein muss. Achtung vor der unveräußerlichen Würde jedes Menschen. Denn in jedem Menschen kommt etwas zum Ausdruck, das nicht »bloß menschlich« ist, wenn man unter »menschlich« bloß diesseitig, bloß biologisch, bloß leiblich versteht. Wenn es einen Ort gibt, an dem das Göttliche in unserer Zeit erscheint, dann ist es der Mensch. Die Atheisten haben sich den Menschen nie richtig angeschaut, sonst könnten sie nicht die Existenz Gottes leugnen. Die Existenz des Menschen ist der Gottesbeweis.

Aus dieser Grundauffassung folgt, dass alle religiösen Bekenntnisgesellschaften, die das Bewusstsein von diesem Göttlichen pflegen, in der Waldorfschule willkommen sind. Denn sie leisten der Gesellschaft einen wichtigen, den wohl wichtigsten Dienst: sie erinnern uns daran, dass ein ideologischer Naturalismus ahuman ist.

In den »drei heiligen Pflichten« jeder Erziehung leuchten die drei Ehrfurchten auf, von denen Goethe in seinem »Wilhelm Meister« spricht: die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, die Ehrfurcht vor dem, was neben uns ist und die Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. Die Religion wendet sich dem zu, was über uns ist, das aber in uns zur Offenbarung kommt. Die Kunst wendet sich dem zu, was neben uns ist, um es zu dem zu erheben, was über uns ist. Und die Wissenschaft wendet sich dem zu, was unter uns ist, um in ihm zu erkennen, was in uns ist.